Die Großwohnsiedlung Grünau befindet sich im Westen von Leipzig. Im Juni 1976 wurde mit dem Bau des ersten Wohnkomplexes (WK) begonnen, sieben weitere kamen hinzu. Zu Spitzenzeiten verfügte Grünau über 85.000 Einwohner_innen und zählte neben Berlin-Marzahn und der Siedlung „Fritz Heckert“ in Chemnitz zu den größten Wohnsiedlungen der ehemaligen DDR – Halle-Neustadt, als eigene Stadtgründung, nicht eingerechnet. Nach 1990 schrumpfte Grünau um die Hälfte, aber auch heute ist es mit rund 44.000 Bewohner_innen der größte Stadtteil Leipzigs. Das Raster als ästhetisches Prinzip und der Beton als vorrangiges Baumaterial prägen die Architektur der Großwohnsiedlung, die sich gleichwohl in den letzten zwei Jahrzehnten durch Sanierung, Rückbau und Kappen ganzer Etagen der Punkthochhäuser und Wohnscheiben stark verändert hat. Grünau ist tatsächlich grüner geworden, luftiger, weiter. Wo damals Waschbeton und Rot-Braun-Grau vorherrschte, überdeckt jetzt pastellfarben verputzte Wärmedämmung das Fugenraster. Gleichwohl ist die Siedlung von Leipzigs Gesamtentwicklung nicht abgekoppelt – auch Grünau verzeichnet wachsende Zuzugszahlen und mittlerweile gibt es wieder Neubau im Quartier.
Noch heute sind die Erinnerungen an die Anfänge des Viertels sehr lebendig: So mussten die Bewohner_innen der ersten Stunden provisorische Wege anlegen, auf der Baustelle anpacken und den Weg zur Straßenbahn in Gummistiefeln zurücklegen. »Schlammhausen«, einst der gebräuchliche Begriff für die neue Siedlung, wurde zum verbindenden Zustand und Ursprungsmythos von Grünau. „Grünau insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat“ schreibt der Architekturhistoriker und Publizist Wolfgang Kil in Abwandlung eines Ernst Bloch-Zitats. Die Bewohner_innen der Neubausiedlung haben sich mittlerweile den Raum angeeignet – haben Wege eingelaufen, Bäume gepflanzt, Nachbarn kennengelernt. Kurz: Sind heimisch geworden.
Die Platte – Symbol und Chiffre
Auf der symbolischen Ebene war das Viertel mehr als die Summe seiner Architekturen: In ihm materialisierte sich als sichtbares Zeichen die Zukunftsvision eines Staates, für dessen Selbstverständnis die Garantie bezahlbaren Wohnraums elementar war. Statt in verschiedenen Vierteln getrennt, lebte hier jeder unter gleichen Bedingungen in gleichen Wohnungen. Die pathetisch überhöhte Vision der sozialen Gleichheit, die letztlich Utopie geblieben ist, sollte sich in der Gleichverteilung von Wohnraum und Konsumgütern spiegeln und in den Bauten aus vorgefertigten, seriell und in Masse produzierten Plattenelementen die Herausbildung »sozialistischer Lebensweisen« von Kleinfamilien in Hausgemeinschaften vollziehen. Heute betrachten Soziologen die Platte als Chiffre, »die einen komplexen Zusammenhang zwischen der DDR-Ideologie und den baulich-räumlichen Konfigurationen sozialen Handelns bezeichnet«, so die Soziologin Christine Hannemann. Formal war sie das Ergebnis der Rationalisierung im Bausektor und die mit ihrer Hilfe errichteten großen Wohnkomplexe standen bereits zur Entstehungszeit in der Kritik.
Nicht erst seit 1990 avancierte der Plattenbau zum Symbol einer verfehlten Wohnungspolitik, aber seitdem ist er darüber hinaus ein Synonym für einen gescheiterten Staat geworden und auch heute, 25 Jahre später, schwer von ideologischen Bewertungen zu entkoppeln. Die Platte wurde Instrument der DDR- und Moderne-Kritik. Dabei wird oft vergessen, dass große Wohnsiedlungen, Vorfertigungen und Industrialisierung deutschlandweite wie internationale Phänomene sind, die letztlich allesamt auf Ideen und Experimente der Moderne rekurrieren.
Kult und Zeitgeist
Unter Wissenschaftlern und Denkmalpflegern hat sich schon seit einiger Zeit, insbesondere aber innerhalb jüngerer Generationen, die Bewertung der großen Wohnmaschinen der 70er Jahre verändert. Als Nachgeborene, die weder ideologische noch ökonomische Kämpfe miterlebt haben, eignen sie sich die spezifischen Qualitäten und Ästhetik des Plattenbaus neu an – in Ost- wie Westeuropa. Teilweise schwingt eine gewisse Sehnsucht mit. Der Journalist Oliver Koerner von Gustdorf erklärt sie mit den Erfahrungen von Utopieverlust: »Die einstmaligen Visionen eines beständigen Fortschritts erscheinen als wiederholter Traum, in dem wir etwas wiederfinden, was wir eigentlich nie besessen haben. « Heute haben die Investoren weitaus mehr Macht als Architekten, die damals dem öffentlichen Gemeinwohl dienten. Jene Investoren bestimmen heute vorrangig über Kapital und Bauland, über Grundrisse bis hin zu gewünschten Bewohner_innen. Die Verwertungsmechanismen des Marktes gehen noch weiter: Fassadenteile der Bauten der ‚Ostmoderne‘, der Bauten der 60er und 70er Jahre, werden an Shoppingmalls geklebt, Plattenbauelemente werden zu Designobjekten, zu eindimensionalen Architekturzitaten. Sie werden als „Kultobjekte“ vermarktet – die Platte wird Mainstream und als Relikt einer untergegangenen Epoche der Popkultur einverleibt.
Vergangenheit und Zukunft: Auf und Ab
In der Erzählung über Ab- und Aufwertungen städtischer Räume bilden große Wohnsiedlungen und Plattenbauten einen ganz eigenen Strang. Und schon beginnt man sich zu fragen, ob bald auch Plattenbauten von der Gentrifizierungswelle erfasst werden. Unter diesen Vorzeichen sollte auch jede_r Künstler_in, der in einem (vormals) abgewerteten Gebiet arbeitet, selbstkritisch die eigene Rolle im Wohnraum-Verwertungsrondell hinterfragen.